17.09.19: Neue Krankheitsbilder im ICD-11

Was das für die Arbeit bei pro mente OÖ bedeutet, lesen Sie im Gespräch mit Vorstandsvorsitzendem Kurosch Yazdi.

 

Kurosch Yazdi ist u. a. Vorstand der Klinik für Psychiatrie mit Schwerpunkt Suchtmedizin am Kepler Universitätsklinikum und Leiter der Ambulanz für Spielsucht.
Kurosch Yazdi ist u. a. Vorstand der Klinik für Psychiatrie mit Schwerpunkt Suchtmedizin am Kepler Universitätsklinikum und Leiter der Ambulanz für Spielsucht.

Die WHO hat die Video- und Onlinespielsucht, die „Gaming Disorder“, und das Burnout-Syndrom im Zuge der Überarbeitung des ICD-10 (Internationale Klassifikation der Krankheiten) in das neue ICD-11, das mit Jänner 2022 in Kraft treten soll, aufgenommen. Diese Neuaufnahme hat für einige, auch mediale, Aufregung gesorgt. Wie beurteilen Sie die Diskussion darüber?
Es ist meiner Meinung nach extrem wichtig, dass im ICD-11 das Thema Online- und Spielsüchte, also Videospielsüchte, egal ob online oder offline, aufgenommen wurde. Immer mehr Menschen, vor allem junge Menschen, sind süchtig nach dem Internet, v. a. nach Online-Spielen. Daher ist es wichtig, dieses Thema grundsätzlich im Gesundheitsbereich zu platzieren. Wir behandeln bei pro mente OÖ bereits seit 2010 Verhaltenssüchte in der Ambulanz für Spielsucht, aber erst durch ICD-11 wird Online-Spielsucht als Erkrankung anerkannt und die Behandlung hoffentlich von der Krankenkasse bezahlt.
Während Männer hauptsächlich von internetbasierten Spielen abhängig sind, verfallen Frauen eher in die Abhängigkeit von sozialen Medien wie Facebook, Instagram, WhatsApp u.a. Diese Form von Sucht ist allerdings nicht in den ICD-11 aufgenommen worden, was einen schwerwiegenden Kritikpunkt darstellt.
Dem Einwand, dass durch die Definition der Spielsucht als Krankheit Menschen stigmatisiert werden, kann mit dem Argument, dass dadurch Betroffene auf Kosten des Gesundheitssystems behandelt werden können, entgegnet werden. Derzeit finanziert sich die Ambulanz für Spielsucht von pro mente OÖ zu 100% von Spenden und es gibt keinen öffentlichen Träger, der die Kosten übernimmt.

 


Warum entstehen Suchterkrankungen überhaupt? Sind sie die Folge oder eher die Ursache von anderen psychischen Erkrankungen?
Eine Suchterkrankung kann entstehen, wenn sich z.B. Jugendliche in einer Peer-Group bewegen, die ein bestimmtes Verhalten aufweisen, das gegebenenfalls zur Sucht führen kann, wie z. B. Rauchen oder eben Online-Spiele spielen. Manche Jugendlichen verfallen hierbei allmählich einer Sucht, ohne dass eine psychische Grunderkrankung gegeben ist. In der Folge kann es allerdings zu einer psychischen Erkrankung kommen. Ein Beispiel: Ein Jugendlicher, der täglich 14 Stunden allein in seinem Zimmer Computer spielt, läuft Gefahr eine Sozialphobie zu entwickeln, da er verlernt, mit anderen Menschen in der realen Welt zu kommunizieren. Auch Depression kann eine Folge von Spielsucht sein.
Aber eine Suchterkrankung kann auch Symptom einer psychischen Erkrankung sein, beispielsweise wenn ein depressiver Mensch versucht, seine Probleme in Alkohol zu ertränken, was, wie wir wohl alle wissen, langfristig nicht funktioniert.

 


Gibt es so etwas wie eine Sucht-Persönlichkeit? Also Menschen, die – mehr als andere – prädestiniert sind für eine Suchterkrankung?
Von der genetischen Ebene her wissen wir, dass das Belohnungssystem im Gehirn nicht bei allen Menschen gleich funktioniert. Manche neigen zum so genannten „sensation seeking“: Die Suche nach Belohnung, nach Aufregung und dem guten Gefühl danach. Hierzu zählen Menschen, die an ADHS leiden. Das sind Jugendliche, die zum Beispiel sehr riskante Sportarten machen und sich dadurch einer erhöhten Verletzungsgefahr aussetzen. Solche Menschen sind potenziell suchtgefährdet, da sie eher zu Alkohol- und Drogenmissbrauch neigen. Aber auch das psychosoziale Umfeld einer Person hat großen Einfluss auf das Suchtverhalten. Ob jemand zu einem Suchtverhalten neigt, ist also sowohl von den äußeren Umständen als auch von seiner Persönlichkeit und seiner Genetik abhängig. Das gilt aber für viele psychische und körperliche Erkrankungen. 

 


Gerade im Bereich Video- und Onlinespielsucht stehen Eltern vor großen Herausforderungen. Wann müssen Eltern die Notbremse ziehen und was können sie tun, damit es gar nicht erst so weit kommt?
Ein gesundes Kind ist ein vielfältiges Kind. Es kann durchaus mal Computer spielen und das sogar einmal etliche Stunden lang, wenn sonst nichts anderes zu tun ist. Aber das Kind muss auch andere Interessen haben, wie z. B. Fußball spielen oder Freunde treffen. Wenn es andere Interessen hat, ist es ein gesundes Kind. Wenn allerdings nur mehr der Computer wichtig ist, dann sollten die Alarmglocken schrillen. Dasselbe gilt auch für die berufliche oder schulische Leistung. Ein junger Mensch sollte bereit sein, ein gewisses Maß an Leistung entsprechend seiner Fähigkeiten zu erbringen. Ist das nicht mehr der Fall, weil er oder sie stundenlang vor dem Computer sitzt, dann besteht Handlungsbedarf. Je jünger die Kinder sind, desto leichter ist es, dem entgegenzuwirken.
Auch ist es unerlässlich, Grenzen zu setzen und klare Regeln zu formulieren, die dann auch eingehalten werden müssen. Wichtig ist es aber, dabei wertschätzend zu bleiben und das Interesse der Kinder am Computerspielen nicht abzuwerten. Nur so kann man in Beziehung bleiben und gleichzeitig ungesundes Verhalten einschränken.
Informationen und Hilfestellung erhalten alle Betroffenen, also sowohl Eltern als auch ihre Kinder, dabei in der Ambulanz für Spielsucht von pro mente OÖ.

 


Bräuchten diese rasanten Entwicklungen, die die Digitalisierung hervorbringt, nicht einen achtsameren und bewussteren Umgang mit den neuen Medien?
Natürlich. Zuallererst müsste die Gesellschaft erkennen, dass Spiel- und Onlinesüchte sich zu einem Riesenproblem entwickeln. Aber man müsste auch über sinnvolle Einschränkungen des Internets nachdenken, wie z. B. echte Altersbeschränkungen oder Werbeverbote bei Inhalten, die für Kinder bestimmt sind.

 


Im April ergab eine Studie der Krankenkasse DAK und des Deutschen Zentrums für Suchtfragen, dass 465.000 deutsche Jugendliche Risiko-Gamer sind und elf Prozent davon regelmäßig in der Schule fehlen, um sich Computerspielen zu widmen. Ob und wie viele Risiko-Gamer es in Österreich gibt, ist bislang nicht erfasst. (Quelle: https://www.derstandard.at/story/2000103638679/gamingsucht-offiziell-als-krankheit-anerkannt-bald-erste-therapien)
Gibt es von Ihrer Seite hier Schätzungen, wie viele Jugendliche und junge Erwachsene in Österreich davon betroffen sein könnten?
Es gibt hierzu derzeit keine aktuellen Zahlen aus Österreich. Die Studien, die es gibt, wurden bereits 2013 veröffentlicht und sind aufgrund der rasch voranschreitenden Entwicklung nicht mehr aktuell.

 


Konsequenz der Einordnung als offizielle Krankheit ist, dass es fortan Therapieangebote in Österreich geben müsste. Gibt es ihrer Meinung nach schon ausreichend Erfahrung und Angebote im Bereich Online- und Onlinespielsucht?
Die Ambulanz für Spielsucht feiert nächstes Jahr ihr 10-jähriges Jubiläum. Generell steigen die Kontakte in der Ambulanz für Spielsucht von pro mente OÖ von Jahr zu Jahr. Derzeit werden Internetsüchtige nur an zwei Stellen in OÖ, der Ambulanz für Spielsucht von pro mente OÖ und an einer Beratungsstelle der Stadt Wels, behandelt. Die Frage ist daher, wie pro mente OÖ flächendeckend Therapien für Internetsüchtige anbieten kann, da wir dafür bislang kein Geld aus dem Gesundheitsbereich erhalten. Wenn die Internetsucht als anerkannte Erkrankung im ICD-11 aufscheint, sind die Chancen für eine ausreichende Finanzierung weit größer.

 


Was werden die Herausforderungen aufgrund der Neuklassifikation sein? Werden sich neue Ziel-/PatientInnengruppen an die Ambulanz wenden.
Ursprünglich haben wir nur Glückspielabhängige behandelt, jetzt behandeln wir gleich viele Glückspielsüchtige wie junge Internetsüchtige. Die Neuklassifikation bringt für uns keine Herausforderungen, weil wir diese Süchte schon immer als Krankheit gesehen haben und die WHO einfach nur nachzieht. Aber die Hoffnung, die damit verbunden ist, ist, dass eben Geldgeber aus dem Gesundheitssystem uns künftig finanzieren werden.“

Das Interview führte Bettina Roitinger, Abteilung Kommunikation & Marketing.